FACHARTIKEL

Der Aufbau des Bharatanatyam-Unterrichts

von Radha Anjali

NMN 22/1999

Hinsichtlich der Technik und heutigen Aufführungspraxis könnte man Bharatanatyam am ehesten mit dem klassischen Ballett vergleichen (wenn auch das Bewegungsalphabet und der Inhalt des klassischen indischen Tanzes vom Ballett grundsätzlich verschieden sind). Das Repertoire, das seine Form vier berühmten Musikern und Tanzmeistern aus Tanjore, Südindien, (Tanjore Quartett) aus dem 18. Jahrhundert verdankt, umfaßt abstrakte und erzählerische Tänze in bestimmter Reihenfolge. Dieser klassischen Tanzform entspricht auch eine strenge Systematisierung und traditionelle Abfolge des Tanzunterrichts.

In Nrtta, dem reinen Tanz, werden axial geometrische Bewegungen zur Ausmalung der Schönheit von Rhythmus und Melodie ausgeführt. Jede reine Tanzsequenz ist bis ins kleinste Detail genau durchdacht und gemäß dem Tala-System (Rhythmus und Maß) der karnatischen (südindischen) Musik kalkuliert. Nrtta besteht aus Adavus, die einzelnen Tanzschritte, die zuerst erlernt werden. Die Adavus werden nach rhythmischen Silben benannt, die auch während des Tanzens von dem Tanzlehrer gesprochen werden, während er gleichzeitig den Rhythmus mit dem Schlagen eines Holzstockes (tattukari) oder mit den Zimbeln (talam) angibt. Hierbei beginnt man mit Tattadavu oder den sogenannten "Stampfschritten". Die Einhaltung der Grundposition der Beine araimandi und das Aufstampfen mit dem Fuß auf den Boden steht an erster Stelle. Nach Tattadavu folgt Natadavu - das Bein wird seitlich ausgestreckt und nur die Ferse berührt den Boden. Zu dieser Serie werden Armbewegungen und Handstellungen ausgeführt. Die Koordination der einzelnen Schritte und das Ausführen der Bewegungen in drei Tempi, kala, steht im Vordergrund sowie das Erlernen der Armhaltung natyarambe, bei der die Arme in einer horizonalen Linie gehalten werden müssen, ohne dass die Elbogen "herunterfallen”.

Wenn man hierzulande nur einmal pro Woche zum Unterricht geht, so dauert die Perfektionierung dieser Serien ungefähr ein Jahr. Ich beziehe mich dabei auf die Beobachtungen, die ich beim Unterricht am Universitäts-Sportinstitut gemacht habe. Selbstverständlich gibt es immer wieder Fälle, wo es schneller geht. Aber es geht ja schliesslich nicht nur um das Auswendiglernen der Schritte, sondern vor allem um die Festigung der Bewegungen im Körper und um die Fähigkeit, die ästhetischen Prinzipien zu erfüllen. Es ist ein langer Weg, bis die Bewegungen natürlich fliessen.
Es müssen ca. zehn verschiedene Adavu-Serien perfektioniert werden, bevor man fähig ist, den ersten Tanz zu lernen. Parallel dazu lernt man die Handstellungen, hasta, für eine Hand und für beide Hände und deren Bedeutung.

In Nrtya, dem erzählerischen oder darstellenden Tanz, ist Abhinaya die Technik. Abhinaya besteht aus darstellenden Körperhaltungen und Mimik, wobei u.a. auch die charakteristischen Handstellungen, Hastas, Verwendung finden, die den Text des Liedes, zu dem getanzt wird, in Gestensprache umsetzen. Damit interpretiert die TänzerIn die im Lied ausgedrückten Emotionen und führt durch ihre Identifikation mit dem Inhalt, der in den meisten Fällen von Liebe handelt, den Betrachter zu einem ästhetischen Erlebnis von höchst subtiler Qualität.

Das Erlernen von Abhinaya stellt einen eigenen Abschnitt im Tanzstudium dar. Da der Tanz hier, weit weg von seinem Ursprungsland und seiner Kultur, unterrichtet wird, ist es besonders wichtig sich soviel wie möglich Wissen und Verständnis über die indische Kultur anzueignen. Das allmähliche Hineinwachsen in die indische Kultur ist notwendig, um Abhinaya zu lernen. Eine Reise nach Südindien ist daher unumgänglich (und ein Studienaufenthalt z.B. in der Bharata Choodamani Schule sehr nützlich). Da die Inhalte des Tanzes aus der hinduistischen Mythologie, Literatur und Religions-philosophie kommen, sollte die TanzschülerIn mit ihnen vertraut sein. Es sollte ihr nichts fremd erscheinen.

Der Unterricht beginnt im allgemeinen mit Aufwärmübungen und Dehnungsübungen für den ganzen Körper, spezielle Übungen für die Hände, die Füße und den Kopf. Diese sollen dazu beitragen, eine bessere Geschmeidigkeit des Körpers zu erzielen. Die Vorübungen bereiten auf die Adavus, die Tanzschritte, vor.

Sehr wichtig ist auch das äussere Erscheinungsbild der Tanzschüler. Dazu gehört die richtige Kleidung. Die ideale Kleidung für den Bharatanatyam Tanz ist für Frauen der indische Baumwoll-Sari (Kalakshetra Übungssari) und für Männer das Dhoti. Die Kinder tragen Kurta mit Pyjama, das heisst ein hemdartiges Kleid, das bis zum Knie reicht, und eine lange Hose. Falls man dies nicht zur Verfügung hat, sind für den Anfang natürlich auch Leggings mit einem langem T-Shirt oder Kurta erlaubt. Bei weiterem Verlauf des Studiums ist aber die richtige Kleidung obligatorisch, da sie die Bewegungen unterstreicht und das richtige Körpergefühl vermittelt. Es wird natürlich immer barfuß getanzt. Ebenso wichtig ist es, die Haare straff zurückzubinden, damit das Gesicht für die Augenbewegungen und für den Ausdruck frei bleibt.

Ein weiteres Fach, welches das Tanzstudium begleitet, ist die klassische südindische (karnatische) Musik. Für den Tanz relevant ist das Erlernen des Tala-Systems (Rhythmuslehre) und der Svaras (Notenskala, Solmisation) sowie das Sprechen der rhythmischen Silben (sollukattu), die die Tanzschritte begleiten. Um den Rhythmus zu festigen ist es wichtig, die Adavusilben (sollukattu) oder Tanzsilben laut zu sprechen und den Takt dazu zu schlagen. Dies kann in dafür eigenen Übungsstunden gelernt werden.

Bharatanatyam schult das Konzentrationsvermögen, den Körper und den Geist, vermittelt Ästhetik und schafft Harmonie. Die Auseinandersetzung mit dem Ausdruck (Abhinaya) führt zum Kennenlernen der eigenen Emotionen. Gerade in einer Zeit, in der verschiedene Kulturen immer näher zusammenrücken, kann Bharatanatyam den Tanz und das Leben sehr bereichern.

Zusammenfassend kann man den Verlauf des Studiums folgendermassen einteilen: Adavutraining, abstrakte Choreographien, Abhinaya, erzählerische Choreographien, Studium der Kultur, Reise nach Indien, Lernen der musikalischen Grundlagen, Arangetram, Auftritte, ...weiteres Training, neue Choreographien, weitere Indienreisen, ...weiteres Training, ... Lernen durch Auftritte, Bühnenerfahrungen sammeln, ...weiteres Training, ...weiteres Lernen und Entdecken, ...weiter trainieren und .....

 


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