FACHARTIKEL

guru-sisya - LehrerInnen und SchülerInnen

von Radha Anjali

NMN 22/1999

Die LehrerInnen-SchülerInnen-Beziehung hat in Indien eine lange Tradition. Sie ist in der indischen Kultur- und Gedankenwelt sowie im indischen Lebensgefühl tief verwurzelt. Zum besseren Verständnis sei hier ein Zitat aus dem Buch "Sri Ramakrishna the Great Master" von Swami Saradananda angeführt:

"In India from the time of the Vedas and the Upanishads, men and women worshipped the teacher, the giver of spiritual knowledge, with great reverence. This worship combined with meditation convinced them in course of time that no man can occupy the position of a spiritual teacher till the divine, superconscious power manifests itself in him. At first they looked upon and worshipped the Guru as belonging to a different and higher type of humanity, because they found that, in contrast with the selfishness of the ordinary human being, the true teacher did good to the people out of pure compassion and without any selfish motive. Later through faith, reverence and devotion, they perceived directly in the guru the manifestation of the divine power, and this convinced them more and more of his divine attributes. They had prayed for so long a time to the gracious Lord, imploring Him to "protect them with His compassionate face" (rudra yat te dakshinam mukham tena mam pahi nityam. Svetasvatara Upanisad 4.21.) that their prayer was granted at last; and the compassion of the Lord stood revealed before them in the person of the Guru.”

Diese Sichtweise trifft nicht ausschliesslich auf den spirituellen Lehrer zu, sondern auch vor allem auf die Lehrer, die eine Kunstform unterrichten. Denn Kunst und Religion bilden in Indien eine Einheit. Schon allein die Überlegung, dass sich die Religion in der Kunst ausdrückt und die Kunst in der Religion, basiert auf dem Grundgedanken der Zweiheit. Es handelt sich also um eine Einheit. Religion ist Kunst, Kunst ist Religion. Die Kunst ist ein Weg der Verwirklichung. "Der Tanz ist die höchste Form vom Yoga (Vereinigung) - alle Sinnesorgane und der Geist sind konzentriert auf die völlige Hingabe und Verschmelzung mit dem Absoluten.

In alten Zeiten wohnte der Schüler beim Lehrer, half ihm bei der Hausarbeit, diente dem Lehrer und erhielt dafür Unterricht. Heute ist dieses System (gurukula) kaum mehr örtlich anzutreffen. Es ist kaum möglich, dass ein Schüler jahrelang bei seinem Lehrer wohnt und ihm dient. Vielmehr haben sich Schulen entwickelt und Klassen, in denen der Unterricht stattfindet. Selten ist man mit dem Lehrer allein. Meistens unterrichtet der Lehrer eine Gruppe. Die innere Haltung dem Lehrer gegenüber hat sich jedoch tradiert und sitzt den Indern sozusagen in den Knochen (Ausnahmen bestätigen die Regel). Viele Lehrer versuchen das Gurukula-System auf die heutigen Anforderungen anzupassen. Das heisst, dass sowohl Gruppenunterricht in Kleingruppen als auch Einzelunterricht stattfindet, in dem dann der Lehrer die Gelegenheit hat, sich ganz auf einen Schüler zu konzentrieren, Fehler zu analysieren, zu verbessern und das Gelernte zu verfeinern. Die Stimmung und Emotion vermitteln ist es, worauf es ankommt. Manche Schüler sind scheu oder schüchtern gerade, wenn es darauf ankommt, Emotionen auszudrücken. Gerade das fordert vom Lehrer dann viel Einfühlungsvermögen und Güte. Auch das Wahrnehmen anderer Probleme des Schülers obliegt dem Lehrer, denn oft löst sich ein Problem durch die Lösung eines anderen Problems auf.

Sogar wenn der Schüler bereits selbst zum Lehrer geworden ist, bleibt die innige Beziehung zum eigenen Lehrer bestehen. Man fühlt sich innerlich verbunden. Es ist so ähnlich wie in einer Familie. Wobei der Guru meistens noch grösseren Einfluss auf den Schüler ausübt, als die Eltern, schliesslich ist er es, der den Weg zum Ziel zeigt, das fachliche Wissen hat und auch ebenso um die Hürden und Schwierigkeiten des Schülers, die er beim Lernen hat, bestens Bescheid weiss.

Keinesfalls ist diese Beziehung nur einseitig zu sehen. Die Beziehung des Schülers zum Lehrer und umgekehrt ist für beide befruchtend und inspirierend. Der Schüler lernt vom Lehrer, der Lehrer wiederum erlebt durch den Schüler eine neue Dimension der Materie. Es sieht die Aufgabe, die er zu erfüllen hat, sprichwörtlich vor sich stehen und gibt sein Bestes, um dieser gerecht zu werden.

 


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